11. Juli 2016
Bericht vom LIQD Sommerfest 2016
Im vergangenen Jahr ist einiges passiert beim Liquid Democracy e.V.: Wir haben herausfordernde Projekte begonnen, einen neuen Vorstand gewählt, zahlreiche neue Mitarbeiter*innen eingestellt und endlich unser neues Büro bezogen. Auch im siebten Jahr unseres Bestehens sind wir begeistert von den Chancen digitaler Partizipation und entwickeln mit großer Freude innovative Konzepte für demokratische Beteiligung im Internet. All das war für uns ein Grund zu Feiern und somit luden wir am 7. Juli 2016 zu unserem ersten offiziellen Sommerfest in unser neues Büro ein.
Die Vorstandsvorsitzenden Rouven Brües und Moritz Ritter leiteten den Abend mit einer durchaus steilen These ein: In Zeiten von wachsendem Populismus und nur wenige Tage nach der Entscheidung für den Brexit benötigen wir demokratische Beteiligung mehr denn je zuvor. Angesichts des britischen Referendums mit – vermutlich – fatalen Folgen auf beiden Seiten des Ärmelkanals könnte man schließlich leicht auf den Gedanken kommen, die direkte Demokratie sei zu beschränken, um ähnliche Debakel in Zukunft zu verhindern. Doch im Gegenteil liegt das Problem viel mehr in den Verfehlungen der repräsentativen Demokratie und in einem zunehmend polarisierten politischen Diskurs. Unter diesen Bedingungen genügt es längst nicht, der wahlberechtigten Bevölkerung eine simple Ja-Nein-Frage zu stellen, um politische Entscheidungen demokratisch und partizipativ zu treffen. Beteiligung fängt schließlich nicht beim Gang zur Wahlurne an, sondern ist ein stetiger Prozess. Dazu zählen unter anderem eine offene Themensetzung, die Suche nach alternativen Entscheidungswegen und das Übernehmen politischer Verantwortung auch jenseits der gewählten Repräsentant*innen, oder kurz: eine fest verwurzelte Kultur demokratischer Beteiligung.
Vor dem Hintergrund dieses Bekenntnisses zu mehr Beteiligung stellten Moritz Ritter und Rouven Brües die aktuellen Projekte des Vereins vor, mit denen er seinen Beitrag zur "Förderung des demokratischen Staatswesens" leistet. Die Projekte decken in ihren Zielsetzungen verschiedene Bereiche ab: Auf der europaweiten Plattform OPIN.me können Jugendliche verschiedene Vorhaben gemeinsam und über nationale Grenzen hinweg verwirklichen und somit durch politische Teilhabe das Vertrauen in die europäische Idee gewinnen. Im Rahmen von Advocate Europe werden innovative soziale Projekte gefördert, um die Kooperation und den Zusammenhalt in der europäischen Zivilgesellschaft zu stärken. Auf meinBerlin werden Bürger*innen auf lokaler bzw. regionaler Ebene in die Arbeit der Verwaltung eingebunden und erhalten somit die Möglichkeit, Verantwortung für die Gestaltung ihres unmittelbaren Lebensraums zu übernehmen. Mit Policy Compass wird europäischen Bürger*innen ermöglicht, politische Entscheidungen mit Open Data anhand von Fakten einzuordnen, anstatt sich nur von der gefühlten Wahrheit leiten zu lassen. Im Projekt Aula – Liquid Democracy an Schulen werden mündige Staatsbürger*innen über den Unterricht hinaus ausgebildet, indem sie politische Beteiligung praktizieren und mit all ihren Herausforderungen selbst erfahren. Das Projekt PaaS – Participation as a Service versucht, einen ganz zentralen Lebensbereich, nämlich den Arbeitsplatz durch mehr Beteiligung demokratischer zu gestalten. Bei den SPD-Prozessen im vergangenen Jahr wurde mittels Adhocracy die innerparteiliche Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Entwicklung von Positionspapieren über verschiedene Ebenen hinweg ermöglicht.
Es entspricht unseren Grundsätzen, im engen und stetigen Austausch mit unseren Partner*innen einen Dialog zwischen der Theorie und Praxis demokratischer Beteiligung zu fördern. Daher hatten wir zwei besondere Gastrednerinnen zu unserem Fest geladen, die uns aus ihrer aktuellen Arbeit berichten konnten: Marina Weisband von politik-digital e.V., der Öffentlichkeit vor allem bekannt aus ihrer Zeit als Geschäftsführerin der Piratenpartei sowie die brasilianische Politikwissenschaftlerin Prof. Thamy Progrebinschi vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Marina Weisband erläuterte zunächst ihr Projekt Aula – Liquid Democracy an Schulen, dass Sie gemeinsam mit uns und mit Förderung der Bundeszentrale für politische Bildung umsetzt. Eines ihrer wichtigsten Anliegen ist dabei, das Selbstverständnis von jungen Menschen hinsichtlich ihrer politischen Wirksamkeit zu verändern. In den streng regulierten Schulen gebe es nur begrenzten Spielraum für demokratische Entscheidungen, die von den Schüler*innen getragen werden. Mit einem Vertrag, der zwischen Schüler*innen, ihren Eltern und den Lehrer*innen geschlossen wird, schafft Aula dafür eine Grundlage. Die Schüler*innen von vier Schulen in Jena, Nottuln, Hamburg und Freiburg werden im Rahmen des Pilotprojektes eigene Vorschläge zur Verbesserung ihres schulischen Umfeldes einbringen und diese bis zu ihrer Umsetzung durch die Schulleitung unterstützen können. Eine Besonderheit des Entscheidungsmodus ist die Möglichkeit der Stimmendelegation im Sinne eines fließenden Übergangs zwischen direkter und repräsentativer Demokratie. Das Aula-Projekt bildet somit einen "Adapter" für demokratische Beteiligung in einem ansonsten autoritären System.
Prof. Thamy Pogrebinschi vom WZB gewährte uns einen interessanten Ausblick über unseren europäischen Tellerrand, indem Sie ihr aktuelles Forschungsprojekt vorstellte. Unter dem Titel LATINNO- Democratic Innovations in Latin America erstellt Pogrebinschi gemeinsam mit ihrem Team eine umfassende Datenbank über innovative Projekte zur Stärkung der Demokratie in 20 lateinamerikanischen Ländern. Dazu zählen neben Deliberation, neuen Formen der Repräsentation von Bürger*innen und direkter Demokratie auch zahlreiche Projekte aus dem Bereich E-Demokratie, auf den sie sich passend zu unserem Kernthema in ihrem Vortrag konzentrierte. Das Erkenntnisziel des Projekts richtet sich auf die Wirksamkeit demokratischer Innovationen sowie auf ihre Auswirkungen auf die Qualität der Demokratie. Diese lässt sich aufschlüsseln in die fünf Dimensionen Accountability, soziale Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, politische Inklusion und Responsivität.
Insofern ist Partizipation nur dann wirkungsvoll, wenn sie zu der Verbesserung einer oder mehrerer Dimensionen demokratischer Qualität beiträgt. Prof. Pogrebinschi plädierte vor diesem Hintergrund dafür, demokratische Beteiligung nicht für sich genommen zu betrachten. Ihr zufolge wird bei der Beurteilung von Partizipationsprojekten zu oft auf die – absoluten oder relativen – Zahlen der Beteiligung geachtet. Die entscheidende Frage sei jedoch die nach den Auswirkungen der Beteiligung für die Bürger*innen und die Inhalte der Politik.
Neben diesen theoretischen Einsichten erläuterte Pogrebinschi zudem einige empirische Erkenntnisse, die sie während der Arbeit an Latinno gewinnen konnte. Einer der interessantesten Aspekte ist die Nutzung mobiler Endgeräte bei der digital vermittelten Beteiligung in Lateinamerika. Denn trotz der zum Teil schwachen wirtschaftlichen Entwicklung in einigen untersuchten Ländern sei die Verbreitung von mobilen Geräten, insbesondere von Smartphones paradoxerweise erstaunlich hoch. Aus diesem Grund würden die meisten digitalen Beteiligungstools nur als Apps für den mobilen Gebrauch entwickelt. Viele der genutzten Technologien seien zudem nicht auf Open-Source-Basis. Somit zeigten sich Unterschiede zu Tools wie Adhocracy, Pogrebinschi betonte aber auch einige Parallelen und empfahl vor diesem Hintergrund einen Austausch zwischen den Entwickler*innen dies- und jenseits des Atlantik.
Für persönlichen Austausch zwischen den Gästen gab es natürlich auch reichlich Gelegenheiten. Neben Gästen von unseren Projekt- und Praxispartnern kamen auch einige Vereinsmitglieder zu Besuch. Wir hatten große Freude an einem bunt gedeckten Buffet und regen Diskussionen, und bedanken uns ganz herzlich bei allen Gästen für einen gelungenen Abend!